“Aus der engeren Heimat”, Beiträge zur Weckung von Heimatsinn und Heimatfreude von Konrad Struve, erschienen im Nov. 1911
Unser erster Spaziergang soll uns nicht in die freie Natur hinausführen; denn wenn der Weststurm braust, dunkles Sturmgewölk vor sich hertreibend, dass sich jeder Augenblick mit einem tüchtigen Guss von oben her zu bedenken droht, dann ist es ratsamer, hinter sicheren Hausmauern zu bleiben. Bei diesem Wetter ebbt auch der Verkehr auf den Straßen ab, und wir haben Muße, uns rechts und links umzuschauen, den Weg, den wir sonst so oft im Drange der täglichen Arbeit achtlos durcheilten, ein wenig genauer zu betrachten. Und gerade dann ist die passende Zeit dazu, wenn sich die frühe Dämmerung auf den Ort herabsenkt, der Schein der aufflammenden Gaslaternen die Giebel und Hausfronten in scharfer Beleuchtung hervortreten lässt, hinter jeden Winkel und jede vorspringen Ecke aber tiefe Schatten legt; – dann ist es, als käme Leben in die langen Gebäudereihen, als wolle jedes Haus stumme Zwiesprache mit uns halten und uns erzählen von seiner Entstehung, seiner eigenen Geschichte, von den großen und kleinen Erlebnissen des Ortes und seiner Bewohner. Wessen Ohr dann zu hören versteht, kann manches vernehmen, was im Lärm und der Hast des ruhelosen Tages und gehört an seinem Ohr verklingt.
Unser altehrwürdiges Gotteshaus soll den Ausgangspunkt unser heutigen Wanderung bilden; wir wollen uns von dort nach Süden zu durch den Teil der Stadt begeben, der uns am schnellsten in die eigentümlichen Entstehungsverhältnisse des Ortes einführt. – Zwei stattliche Gebäude flankieren den Eingang zur Kaiserstraße, beide in ihrer Art charakteristisch für die erstaunliche Entwicklung der Stadt aus bescheidenen Anfängen heraus: zur Rechten der Sandsteinbau der Westholsteinischen Bank, deren Millionenumsatz uns den Umfang des lokalen Geldverkehrs ahnen lässt; zur Linken das große, moderne Kaufhaus mit der Doppelreihe glänzender Spiegelscheiben in zwei Stockwerken übereinander, die in abendlicher Beleuchtung der Ecke ein fast großstädtisches Ansehen geben. Wohl keine andere Stelle – die Ecke Holsten- und Königstraße vielleicht ausgenommen – zeigt so den völligen Umschwung des Handels- und Verkehrswesens wie diese.
Es mag den Elmshornern älteren Schlages wunderlich genug zu Mute sein bei der Vorstellung, dass noch vor 50 Jahren an dieser Stelle das „Große Haus“ stand, durch dessen weiten Torbogen der Zugang nach Vormstegen und Klostersande führte. Und welche Jugenderinnerungen mögen mit dem Bilde dieses Wahrzeichens des alten Elmshorns wieder auftauchen! Über dem Torbogen der große Saal, die Stätte so mancher Jugendlust, wo die Schützenbälle, Tranköst – und welchen Namen die vielen öffentlichen und privaten Ballfestlichkeiten immer gehabt haben, – gefeiert wurden. Dann all die feucht-fröhlichen Sitzungen in dem waffengeschmückten, gemütlichen Gastzimmer! Und steigt da nicht wahrhaftig ein wohlbekannter Schatten vor dem inneren Auge auf? Der vielgenannte alte Hausknecht, wegen seines lieblichen Stimmorgans nur „Jan Gröhl“ genannt, der unerbittlich von jedem durchpassierenden Fuhrwerk seinen Schilling erhob, bei Nachtzeiten, wenn nach 10 Uhr abends das große Tor geschlossen war, das Doppelte. Dann mochten die „Öwernstegener“, die sich im „Ort“ verspätet hatten, sehen, wie sie in der Dunkelheit über den langen abenteuerlichen Steg durch die Wiesen dahinstolperten, oder vom Löschplatz aus, hinter den Gärten den schmalen Steig an der Aue entlang, ihren Weg fanden. Wohl dem der in der lebensgefährlichen Dunkelheit seine Gaslaterne oder gar die alte Leuchte mit den Hornscheiben den tückischen Angriffen des Weststurmes zu entziehen wusste und ohne Arm- oder Beinbruch glücklich den heimischen Herd erreichte. Bis zum Jahre 1865 stand das „Große Haus“ in seiner früheren Gestalt; dann wurde die Weg- und Brückengerechtigkeit des „Großen Hauses“, die noch aus der schauenburgischen Zeit herstammte, abgelöst und die Straße dem Verkehr freigegeben; das „Große Haus“ wurde teilweise abgebrochen und rückte bescheidentlich zur Seite, um mit der Aufführung des großen Bankgebäudes ganz in den Hintergrund gedrängt zu werden.
Fast zu lange hat uns diese Ecke mit ihren Erinnerungen aufgehalten; wir schreiten die Kaiserstraße entlang weiter, um sogleich von neuem halt zu machen; denn diesen merkwürdigen Spitzbogen zur Linken vor der Brücke müssen wie doch einen Augenblick näher in Augenschein nehmen. Wieder eine Erinnerung an längs vergangene Tage! Zwei Walfischkiefer, bemerkenswert durch auffallende Länge und Stärke, sind hier durch eine Eisenklammer zu einem Torbogen vereinigt. Unsere alten Elmshorner „Groonlandsfohrer“ haben sie im Jahr 1856 als Trophäe von ihren Walfisch- und Robbenjagden im nördlichen Eismeer mitgebracht; jetzt sind sie in unserer Stadt fast die einzigen Erinnerungszeichen aus der Zeit, da die Schiffe „Flora“ und „Stadt Altona“ alljährlich zu ihrem stolzem Gewerbe in die nördlichen Meere hinausfuhren. Verraten wollen wir an dieser Stelle, dass das mächtige Tier, von dem die Kiefer herstammen und das 200 Tonnen (Fässer) Tran und 9000 Mark Courant Fischbein lieferte, tot im Eismeer treibend aufgefunden wurde, eine englische Harpune im Rücken. Zahlreiche Eisbären hatten sich zum Fraße bei dem Kadaver eingefunden, als das Elmshorner Schiff eintraf und mühelos die erwünschte Beute in Besitz nahm.
Nun wenden wir uns Hafen und Brücke zu. Wir sind auf der Aubrücke. Heute soll uns aber nicht die leider aber nur zu wohl begründeten Sorgen der Elmshorner Geschäftswelt um die mangelhaften Hafen- und Stromverhältnisse beschäftigen; heute wollen wir uns die Freude über den Anblick, der sich hier zur Abendzeit bietet, nicht beeinträchtigen lassen.
Ist denn das wirklich noch dieselbe schmale, verschickte Wasserrinne ohne Wasser, wie wir sie am Tage so oft zu sehen gewohnt sind – euphemistisch Elmshorner Hafen genannt? – Zwischen den tiefschwarzen Schatten der Bollwerke erscheint der Flusslauf jetzt viel breiter und tiefer. Die Masten recken sich höher, die regennassen Decks der Ewer und Schuten glänzen, schärfer heben sich die gefälligen Formen der Schiffsrümpfe von der dunklen Wasseroberfläche ab, auf der der Schein der Uferlaternen in lang gestreckten Lichtern zittert. Kleine glitzernde Wellen zeigen die ebbende Bewegung des Wassers an. Zwei Lichtreihen begleiten die anmutige Bogenlinie der Aue und scheinen in der Ferne zusammenzufließen. Die mächtige Front der Schlüterschen Mühle, um diese Tageszeit noch bis ins oberste Stockwerk erleuchtet, gibt dem Ganzen einen wirksamen Abschluss, und so lässt uns der Hafen, diese Schmerzenskind unserer Stadt, ein Bild genießen, voll des frischen schaffenden Lebens, – freundlich und doch großzügig zugleich.
Nun treten wir noch einen Augenblick hinüber auf die andere Seite der Brücke, – um diese Tageszeit nimmt unsere löbliche Polizei es mit dem Verbot des Stehenbleibens nicht mehr so genau – um zu unserer Überraschung hier ein ähnliches Motiv zu finden, wie Künstlerhand es an den Grachten der holländischen Hafenstädte oder den Hamburger Fleets lieben gelehrt hat. Die Dunkelheit erweist sich wahrlich als treffender Maler. Verschwunden sind Schlick und schmutzige Abwässer; die hässlichen Wände der Lederfabrik sind in tiefe Schatten getaucht; aus dem Streckerschen Gange fällt gerade soviel Licht auf den Steg, um diesen in leichten Umrissen vor dem dunklen Hintergrund hervortreten zu lassen.
Und dem Dunkel entsteigen wieder Bilder der Vergangenheit. Wo jetzt die Streckersche Fabrikanlage ist, lag noch vor 60 – 70 Jahren ein Haus auf einem Sandhügel, nach den Bewohnern des Hauses kurzweg Fasterts Berg genannt. In diesem Sandhügel, inmitten sumpfigen Wiesenlandes ist wohl der eigentliche Grund zu suchen, dass die uralte Heerstraße, die von den Elbübergängen bei Wedel und später von Hamburg aus auf dem hohen Geestrand entlang nach Norden führte, gerade hier ihren Übergang über die Aue suchte; denn hier schoben sich die Dünen, auf denen die Kaiserstraße erbaut ist, weit in dass sumpfige Autal hinein und erleichterten das Überschreiten , namentlich unter Benutzung des erwähnten Sandhügels. Diesen Übergang hat vielleicht der Ort seine Entstehung zu verdanken; die ältesten Urkunden, in denen der Name unser Stadt zuerst auftritt, nennen auch den Auübergang , zunächst als Börde oder Furt, dann seit 1386 auch als Brücke, bei der Brückengeld erhoben wird.
Es ist historischer Boden, der uns trägt. Wir wollen es der Phantasie unserer Leser überlassen, was für buntes Volk im Laufe der Jahrhunderte hier entlang gezogen sein mag: von den Zeiten Karls des Großen an bis zu den Tagen des großen 30jährigen Krieges und weiter bis zu den Truppendurchmärschen zu Anfang und um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts.
Aber mit dem mehrfach genannten Sandhügel hat es noch seine eigene Bewandtnis. Wenn die schaffende Phantasie aus dem Dunkel der Nacht Zeiten entstehen lassen könnte, die 5 – 600 Jahre zurückliegen, dann würde sich uns ein Geheimnis enthüllen, das wahrscheinlich für immer dunkel bleiben wird. Mit Hartnäckigkeit hat sich an diesen Platz die Sage von dem einstigen Vorhandensein eines Schlosses aus der Schauenburger Zeit geknüpft. Nach den Aufzeichnungen des Jahres 1831 verstorbenen Fleckensgevollmächtigen Mordhorst habe es zwischen Elmshorn und Vormstegen in einer Wiese auf einem Sandhügel gelegen, von der alten und neunen Aue umgeben, hart an der ehemaligen Landstraße, welchen jetzt der Damm genannt werde, etwa 200 Schritt von der Kirche entfernt, die auch eben dort ihren Platz gefunden habe, wo die Sandufer der Aue sich am meisten genähert hätten. Im Jahre 1743 sei der Sandhügel geebnet, und da habe man nicht nur Grundmauerwerk, verbranntes Holz, Überreste von alten Waffen, sondern auch silberne und kupferne Münzen gefunden, die mit einem Greif und einem Kreuz und der Umschrift in Mönchsbuchstaben: „Moneta nova Rostock“, doch leider nicht mit einer Jahreszahl versehen gewesen sein.
Übrigens wissen schon Boltens „Historische Kirchen-Nachrichten 1791“ davon: „Im Distrikte über dem Stegen zeigt man noch hart am Stege und an der Brücke ein Haus, welches auf dem Platze eines ehemaligen Schlosses Stegen stehen soll.“
Der verstorbene Landesbaurat Eckermann erzählt in seinen Jugenderinnerungen „As ick so´n Jung weer“:
„Dar schull vaer Jahrhunderten en Schaunborger Slot stan hemm; wat doran weer, heff ick nich rutkregn, aber dat heff ick noch sülbn sehn, dat nich wid vun de Sted,wo nu dat Steg aeweer de Au leeg, dicke Palköpp ut den Born vunne Au keeken, de naher mit grote Möh uttrocken oder affnen warn. Das Holt weer Eekenholt un ganz swart.“
Dass es über dieses angebliche Schauenburger Schloss noch eine andere Tradition gibt und was sonst noch darüber zu sagen sei, soll später an anderer Stelle mitgeteilt werden.
Nach der alten Duhnschen Lithographie aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts war der Weg von Alt-Elmshorn nach Vormstegen mit einer Allee italienischen Pappeln eingefasst; jetzt sind diese durch eine Reihe Ulmen ersetzt, deren kräftiges Wachstum zeigt, dass die unser wind – und regenreiches Seeklima sehr gut ertragen, besser jedenfalls als die gegen Witterungseinflüsse empfindlicheren Pappeln. Durch die Aufschüttungen auf dem Platz vor der alten Gasanstalt und auf dem Lienauschen Platz hat der Weg längs die Berechtigung auf die Bezeichnung „Damm“ verloren, wie er von je her genannt wurde. Einst, als zu beiden Seiten noch sumpfige Wiesen lagen, hatte der Weg wirklich den Charakter eines Dammes, obwohl er damals bedeutend niedriger war als jetzt und bei Flutzeiten leicht überschwemmt wurde, so dass die Verbindung zwischen Vormstegen-Klostersande und dem Flecken Elmshorn gar nicht selten unterbrochen wurde. Wenn das steigende Wasser allmählich über die Wiesen und dem Damm hinwegkroch, dann ragte anfangs wenigstens noch der alte lange Steg hervor, der von Streckers Gang aus über die Wiesen bis in die Nähe des Nordwaldtschen Hauses nach dem jetzigen Kinderspielplatz führte. Schließlich erreichte die Flut auch den Steg, und nur das Geländer derselben blieb sichtbar.
Diesem Stege, dem alten Kirchensteig, verdankte bekanntlich der jetzige Stadtteil Vormstegen, vor der Eingemeindung 1878 ein selbstständiger Ort, seinen Namen „vor dem Stege“. Aus der Bestimmung des Steges als Kirchensteig, ergab sich für die Kirchspielbewohner südlich der Au – die Vormstegener, Klostersander, Hainholzer – die Verpflichtung, für die Instandhaltung des wunderlichen Bauwerks zu sorgen. Man hatte den Steg deshalb in etwa 50 Schläge eingeteilt; die Nummern waren in das Geländer eingeschnitten. Nun hatte der eine Hausbesitzer seine Bohlen in dieser, der nächste in anderer Weise angenagelt; kein Wunder, wenn das Ganze dabei krumm und schief geraten war. Durch das viele Ausflicken war die Sache nicht besser geworden. Nach dem größeren oder geringerem Eifer, die die Beteiligten dabei entwickelten fiel auch die Ausbesserung ganz verschieden aus; nahm einer die Brettstücke dazu, die er gerade zur Hand hatte, benagelte ein besonders ökonomisch Veranlagter die schadhaften Stellen sogar mit Resten von alten Sieben und sonstigen Metallplatten, und so nahm der alte Steg mit der Zeit ein recht buntgescheckiges Aussehen an und mag besonders von Fremden als Unikum angestaunt worden sein. Da Bretterbelag und Geländer vielfach schadhaft waren, dürfte die Passage über den Steg namentlich in der Dunkelheit und bei Hochwasser nicht gerade verlockend gewesen sein, Das Jahr 1866, das ja so manche einschneidende Veränderungen mit sich brachte, ließ auch den lagen Steg verschwinden.
Die alten Flurbezeichnungen rechts und links vom Steg, wie „Lütt Wisch“, „Amtsvoigts Wisch“ u. a. waren wohl schon früher der Vergessenheit anheim gefallen.
Wo jetzt die Hafenbahn entlang führt, überschritten Damm und Steg die Alte Au, zur Zeit der Reichsgrafschaft Rantzau die Landesgrenze gegen das Gebiet der königl. Herrschaft Pinneberg. In der alten Au, die in späterer Zeit, namentlich seit dem Bahnbau, nur noch ein verschlickter Graben war, haben wir wohl den eigentlichen natürlichen Wasserlauf der Au zu sehen. Von der Schleusenbrücke bei der Langeloher Dampfmühle kann man noch jetzt ihren gewundenen Lauf durch die Wiesen nördlich vom Bahndamm verfolgen. – Da die Grafschaft Rantzau auch nach der Besitzergreifung durch den König neben dem Namen auch die selbständige Verwaltung behielt, bewahrte die „Alte Au“ bis in neuere Zeit eine gewisse Bedeutung als Grenze: hüben galt Rantzausche, drüben Pinnebergische Gerichtsbarkeit. Über die Au reichte der Arm der Elmshorner Polizei nicht. Dass sich daraus allerlei Folgerungen ergaben, teils unangenehmer, teils mehr komischer Art, wenn es sich z.B. um die Verfolgung von Landstreichern oder um die beliebten Reiberein zwischen Elmshorner Schustergesellen und Klostersander Zimmerleuten handelte, dessen wissen sich ältere Einwohner gewiss noch recht wohl zu erinnern.
Auch die Schuljugend der beiden benachbarten Ortschaften ließ es sich nicht nehmen, die alte Rivalität zwischen den ziemlich großspurig auftretenden Alt-Elmshornern und den ein wenig als Hinterwäldler angesehenen Vormstegenern ihrerseits gebührend zum Austrag zu bringen. So erzählt Eckermann in seiner launigen Weise: „Ock de Oberstegener un Klostersanner warn mennigmal, wenn de Kriegsaxt twischen uns jüs utgrawen weer, vun dat Markt wegjagt, un denn war die Slacht mit Steensmiten un vele Schimpwörder op den Damm twischen Elmshorn un Öberstegen fortsett. Dat gwöhnliche Schimpen und Prahln trock awer lang nich so vel, as wenn vun de Gegensid ropen war: „Elmshorner Pack hett Lüs inne Jack!“ Dat kunn man sich nicht seggn laten, dat geew dat wat vaer.“
Jetzt führt der alte Damm den gewichtigen Namen Kaiserstraße. Man wollte wohl andeuten, dass Vormstegen dem Flecken Elmshorn mit seiner „Königstraße“ an patriotischer Gesinnung nicht nachstehe. Jedenfalls klingt aus dem Namen etwas von der auch hier in weiteren Kreisen empfundenen Freude darüber, dass es nun mit der beschämenden Kleinstaaterei zu Ende sei und dass auch unsere Heimatprovinz ein vollberechtigtes Glied des neuen mächtigen Kaiserreiches geworden war. Mit welcher freudigen Teilnahme man die großen weltgeschichtlichen Ereignisse, die zur Einigung Deutschlands geführt hatten, begrüßte, beweist die Pflanzung von Friedenseichen, selbst in kleineren Orten. Auch in Vormstegen hatte man unter Redeakt und Gesang der Schulkinder diese Erinnerungsfeier begannen; leider ist der damals gepflanzte Baum durch die Ausführung der neuen Adler-Apotheke etwas in die Enge gekommen und fällt neben den Linden des Kinderspielplatzes kaum noch auf.
In früheren Jahren war Vormstegen von Elmshorn durch einen größeren Zwischenraum getrennt. Das erste Haus an der rechten Seite des Dammes von Elmshorn war das Blendornsche, jetzt Boltsche Gewese; an der linken Seite traf man zuerst das Rathmannsche Haus, wo jetzt an Osterfeld das Wohnhaus neben der Knechtschen Fabrik liegt. Vor hundert Jahren hieß die Kaiserstraße einfach „Byd lange Steg“ Nur wenige Häuser standen dort. Sie waren nach der Zeit ihrer Erbauung ohne Rücksicht auf ihre Lage mit fortlauflaufenden Nummern versehen, so dass die Nr. 7 in der Nähe des Wechselplatzes später zwischen den Nummern 34 und 35 lag. Aber da Vormstegen nur klein war und jeder Einheimische alle seine Mitbürger kannte, fand man sich wohl auch so zurecht. Die Briefbestellung machte damals noch keine Schwierigkeiten, genügte doch dafür noch vor einem Menschenalter im ganzen Flecken ein einziger „Litzenbroder.“
Einige der alten schlichten Häuser aus früherer Zeit – die Häuser Pilgrim (Dunker), Schümann, Wigand u. Wulf – sind bis jetzt erhalten geblieben und stehen mit ihren holzverschalten Giebeln ernst und würdig da zwischen all den wenig ansprechenden stillosen Bauten jüngerer Zeit. Wohl haben auch sie allerlei Veränderungen in moderner Geschmacksrichtung über sich ergehen lassen müssen, z.B. sind die alten Bleifassungen der Fenster überall durch hölzerne Fenstersprossen ersetzt – nur das Wigandsche Haus zeigt wie verschämt in seinen Giebelfendern die alte Bleieinfassung – ; im Großen und Ganzen aber haben die alten Häuser ihren früheren Charakter gewahrt.
In sanfter Steigung hat uns die Straße auf den Wechselplatz geführt, dessen Kandelaber uns schon von weitem entgegenstrahlte. Was sagt der Name Wechselplatz dem heutigen Geschlecht? Gedankenlos hastet es vorüber, nicht ahnend, dass an dem Namen die Erinnerung an eine ganze versunkene Kulturperiode haftet, an die Zeit der Großväter und der schlechten Wege, als Postkutsche und Frachtwagen das Verkehrswesen noch völlig beherrschten.
Versetzen wir uns einmal 100 Jahre zurück!
Eine lange Reihe schlecht bespannter Bauernwagen taucht vom Damm her auf. Peitschengeknall, Singen und lautes Gröhlen, Hüteschwenken! Blitzende Bajonette! Auf dem Wechselplatz warten bereits zahlreiche ähnliche Gefährte wie die ankommenden, mageren Gäule in schlechten Sielengeschirren davor. Geestbauern mit mürrischen Gesichtern, die kurze Pfeife im Munde, die Peitsche in der Hand, stehen sie neben ihren Pferden. Auf dem Platz soll der Wechsel der Wagen stattfinden. Hier sollen die Bauern der kgl. Herrschaft Pinneberg den Truppentransport in Empfang nehmen und nach der nächsten Station befördern. – Jetzt halten die dichtbesetzten Wagen. Die Soldaten in ihren buntfarbigen dänischen Monturen springen von ihren Sitzen herab zur Erde. Da drängen sich zwischen die wartenden Bauern einheimische Fuhrwerksbesitzer – Wördemann in der Reichenstrasse soll ca. 100 Pferde gehabt haben -, und erbieten sich, gegen Zahlung von 1 Thlr. für den Wagen, den Transport zu übernehmen. Mit einem Seitenblick auf sein kümmerliches Gespann entschließt sich der Geestbauer schweren Herzens zur Zahlung und zieht ab. – Rasch wird nun für die Herren Offiziere ein bequemerer Federwagen beschafft, die Mannschaften nehmen ihre Plätze ein, und weiter geht´s nach Pinneberg zu. – Das war eine so genannte Kriegsfuhre.
Darunter verstand man solche Fuhren, die vom Militär requiriert, namentlich in Kriegszeiten geleistet werden mussten. Daneben gab es Hof- und Königsfuhren. Unter letzteren waren alle Fuhren begriffen, welche die Eingesessenen den Königlichen Beamten in Dienstgeschäften, ferner den auf Kammerpässen reisenden Personen und bei der Durchreise Sr. Majestät dem dänischen König zu leisten hatten. Wie kam es nun, dass der Wechselplatz nicht in dem größeren Flecken Elmshorn, sondern in dem kleinen Vormstegen lag? Das ist geschichtlich wohl begründet und weist zurück auf die hier vorliegenden eigentümlichen staatlichen Verhältnisse. Unter Reichsgraf Christian waren in der Grafschaft Rantzau, also auch in Elmshorn, die meisten Fuhrdienste abgehandelt. Diese Abmachungen blieben auch nach dem Übergange in königlichen Besitz als zu Recht bestehen; trotzdem kam es immer wieder vor, dass die Fuhren in natura verlangt wurden, weil die späteren Beamten die Abmachungen nicht genügend kannten. So gab dieser Fuhrdienst andauernd Anlass zu Beschwerden und Rechtsstreitfällen. Im Jahre 1771 weigerten sich die Kommunen, Personen mit Kammerpässen zu befördern. Der Administrator zu Rantzau berichtete, dass die Grafschaft nicht pflichtig sei, diese habe bekanntlich zu gräflicher Zeit die Pflichtigkeit abgehandelt und erlege dafür eine bedeutende Summe ins Register. Es sei bei der Besitznahme der Grafschaft den Untertanen versichert, dass alles auf dem alten Fuße belassen bleiben sollte; man dürfe ihnen deshalb die neue Steuer nicht aufbürden. Übrigens sei die Herrschaft Pinneberg fuhrpflichtig und müsse Personen, die auf Kammerpässen reisen, von Altona bis Itzehoe befördern. Der Wechselplatz sie deshalb nicht in Elmshorn, sondern im Vormstegen. Die Kgl. Rentenkammer verfügte, dass die Freipässe künftig mit der Klausel versehen werden sollten, „dass die zu Elmshorn erforderlichen und Vorspannpferde von den Pinnebergischen Beamten zu requirieren seyen und dass der Wechselplatz in solchen auf Vormstegen zu bestimmen sey.“ So wurden denn vom Generalkommissariatskollegium die Militärfuhren stets von der Herrschaft Pinneberg requiriert; hinsichtlich der Kammerpässe kamen auch später Irrtümer vor, und noch im Jahre 1813 monierte die Kgl. Rentenkammer, dass der Elmshorner Poststation eine gewisse Summe, die derselben wegen Beförderung eine auf Kammerpass reisenden Person zugute käme, nicht ausbezahlt worden sei.
Jetzt haftet die Erinnerung an diese Vorgänge nur noch an den Namen Wechselplatz. Das Straßenbild hat sich völlig verändert. Automobile und Fahrräder beleben neben Pferdefuhrwerke in steigendem Maße den Platz. Geblieben ist außer dem Namen zur Hauptsache auch das Aussehen des Platzes. Wohl ist die alte Scheune neben dem Münsterschen Hause verschwunden und hat der Westerstraße Platz gemacht; neu ist auch das Haus des Malermeisters Hein; sonst hat der Wechselplatz noch das ursprüngliche Aussehen behalten. Wie nett und gemütlich liegt das alte Doosesche Haus da!
Das Haus von Hell ist ein hübsches Beispiel dafür, wie das alte Giebelhaus sich durch das Mansardendach gefällig und zweckmäßig zum geräumigen Geschäftshaus ausgestalten ließ. – Anheimelnd wirkt der Platz mit den davon abgehenden Straßenzügen, wenn es in später Abendstunde still geworden ist und das Licht des Vollmondes sich breit auf das Straßenpflaster legt und um den Giebel und Hauseingänge spielt. Dann möchte man statt der etwas mager wirkenden Kandelaber-Zierde eine in ganz einfachen Formen
gehaltenen steingefassten Brunnen dahin wünschen, und das stimmungsvolle Bild des Marktplatzes einer alten verträumten Kleinstadt wäre fertig. Der Kandelaber! Als er zu Anfang der neunziger Jahre errichtet wurde, ließ er anfangs, wohl aus Sparsamkeitsrücksichten, von seinen 5 Laternen allabendlich nur eine einzige in hellem Glanze erstrahlen, zuweilen hüllte er sich auch ganz in Dunkel.
Das regte poetisch veranlagte witzige Mitbürger zu dem Sang: „Der Lutzhorner Torfbauer an seinen Sohn“ an, der in die tiefsinnigen Verse ausklang:
Und nun rat ich, sag er, dir von vorn, sagt er,
Kommst mit Torf du, sagt er, nach Elmshorn, sagt er,
Und den Kandelaber ohne Licht, sagt er,
Anzusehen, sagt er, säume nicht.
Abschrift von Arno Freudenhammer